Die Angst, die wir nie erlebt haben –
Wie Emotionen über Generationen
vererbt werden
Warum wir manchmal vor Dingen zurückschrecken, die wir selbst nie erlebt haben. Und was das mit innerem Wachstum zu tun hat.
Emotionale Reaktionen können biologisch über epigenetische Prozesse oder sozial über subtile Signale – wie Geruch, Körpersprache oder Bindungsverhalten – über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das erklärt, warum wir manchmal fühlen, was wir selbst nie erlebt haben.
Bevor ich weiter auf die Erkenntnisse dieser Studien eingehe, ist es mir wichtig, etwas klarzustellen: Ich bin grundsätzlich gegen Tierversuche. Kein Lebewesen sollte leiden müssen, damit wir Menschen Antworten auf unsere Fragen finden. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass manche wissenschaftlichen Erkenntnisse – wie in diesem Fall – aus genau solchen Versuchen stammen. So ambivalent das auch ist: Die beschriebenen Experimente mit Mäusen und Ratten haben wertvolle Einblicke in die emotionale Weitergabe von Erfahrungen ermöglicht. Ich teile diese Erkenntnisse nicht, um Tierversuche zu rechtfertigen, sondern weil sie uns helfen können, uns selbst und unsere unbewussten Reaktionsmuster besser zu verstehen – mit dem Ziel, bewusster und freier zu leben. Und Erklärungen zu finden, dass z. B. ein Kind eines Holocaust-Überlebenden Alpträume oder Rückblenden aus einer Erfahrungen erleiden kann, dass es nie erlebt hat.
Die Mäusestudie: Angst, die vererbt wurde
In einem viel beachteten Experiment aus dem Jahr 2013 trainierten Wissenschaftler männliche Mäuse darauf, einen bestimmten Duft (Acetophenon – ein süßlich riechender Stoff, ähnlich Orangenblüte) mit Gefahr zu verknüpfen. Jedes Mal, wenn der Duft verströmt wurde, erhielten die Mäuse einen leichten Stromschlag.
Nach kurzer Zeit genügte bereits der Duft, um eine starke Angstreaktion auszulösen – Zittern, Erstarren, Stress.
Doch das eigentlich Erstaunliche zeigte sich später: Die Nachkommen dieser Mäuse – die nie mit dem Duft oder einem Schock in Berührung gekommen waren – zeigten ebenfalls deutliche Angstreaktionen, sobald sie zum ersten Mal mit diesem Duft konfrontiert wurden.
Die Biologie des Unsichtbaren
Die Forscher fanden heraus, dass es zu epigenetischen Veränderungen gekommen war – also zu biologischen Anpassungen, die nicht die DNA selbst verändern, sondern die Art und Weise, wie sie gelesen wird.
Im Fall der Mäuse wurden bestimmte Gene, die für die Wahrnehmung dieses Dufts zuständig sind, anders reguliert. Die Nachkommen hatten mehr Geruchsrezeptoren für genau diesen Duft. Ihr Körper war quasi vorbereitet, auf ihn mit Alarm zu reagieren.
Und das Verrückte: Auch die Enkelgeneration zeigte ähnliche Muster.
Das bedeutet: Eine emotionale Erfahrung wurde biologisch weitergegeben. Als Schutz, als Erinnerung – und gleichzeitig als Last.
Emotionen können ansteckend sein – sogar über den Geruch
Andere Studien belegen, dass nicht nur genetische, sondern auch soziale Mechanismen dafür sorgen können, dass Angst von einer Generation auf die nächste übergeht.
Wenn Ratten den Geruch von Artgenossen wahrnahmen, die unter Stress standen oder Schmerz erfahren hatten, entwickelten sie selbst eine Angstreaktion – obwohl sie nie selbst ein traumatisches Erlebnis hatten. Über sogenannte Alarmpheromone wird ein unterschwelliges Signal ausgesendet: „Hier droht Gefahr.“
Auch bei Mutterratten ließ sich beobachten: Wenn sie bestimmte Reize mit Bedrohung verknüpften, übertrugen sie diese Erfahrung auf ihre neugeborenen Jungen – durch Körpersprache, Geruch und Verhalten. Die Babys kannten die Bedrohung nicht, aber ihr Körper reagierte, als wäre sie real.
Was bedeutet das für uns?
Diese Forschungsergebnisse sind mehr als faszinierende Tierstudien. Sie lassen sich auch auf den Menschen übertragen – auf dich, auf mich, auf ganze Familiengeschichten.
Manche Ängste, Reaktionen oder inneren Spannungen entstehen nicht allein durch persönliche Erfahrungen. Sie können sich als Spur durch Generationen ziehen.
Manchmal sind wir innerlich auf Gefahr eingestellt, obwohl unser aktuelles Leben sicher ist.
Manchmal spüren wir Stress, Enge oder Rückzugstendenzen, obwohl unser Verstand keinen Anlass sieht.
Dann könnte es sein, dass wir etwas mittragen, das nicht in unserer eigenen Lebensgeschichte entstanden ist – sondern als emotionale Erinnerung aus unserer Herkunft stammt.
Was das innere Kind damit zu tun hat
Viele von uns tragen Prägungen aus der Kindheit in sich – Muster, Reflexe, Überlebensstrategien. Doch was wäre, wenn einige dieser Muster nicht einmal aus der eigenen Kindheit stammen, sondern schon viel früher begonnen haben?
Das erklärt, warum manche Gefühle sich nicht logisch erschließen lassen – und warum viele Menschen sich selbst nicht verstehen können, obwohl sie es so sehr versuchen.
Zu spüren: „Ich reagiere auf etwas, das ich nie erlebt habe“ – das kann verwirrend sein. Aber es kann auch entlasten. Denn es zeigt: Es liegt nicht an dir. Und es ist veränderbar.
Du bist mehr als deine Prägung
Auch wenn emotionale Erfahrungen sich tief im Körper verankern können – du bist nicht dazu verdammt, sie ein Leben lang mit dir zu tragen.
Du kannst beginnen, deine Muster zu erforschen. Du kannst dich selbst besser verstehen. Du kannst neue Erfahrungen machen, die alte Reaktionen überschreiben. Und du kannst deinem inneren System ein Gefühl von Sicherheit zurückgeben.
Nicht von heute auf morgen – aber Schritt für Schritt. Mit Geduld, mit Mitgefühl, mit der Entscheidung, dich selbst besser kennenzulernen. Und wenn du möchtest, begleite ich dich dabei – zum Beispiel mit der Methode des Emotion Code, um solche emotionalen Altlasten sanft und nachhaltig zu lösen.
Quelle:
https://www.nature.com/articles/nn.3594
https://www.nature.com/articles/s41598-018-36023-w
